perfekt unperfekt, Perfektionismus, Kontrolle, Selbstzweifel, Selbstmitgefühl

Die Kunst perfekt unperfekt zu sein

Perfektionismus hat nicht nur schlechte Seiten. Es ist eine Kunst, die Balance zu finden und sich zu erlauben, perfekt unperfekt zu sein. Eines meiner Lieblingszitate zum Perfektionismus ist von Elizabeth Gilbert „Perfektionismus ist nur die Haute Couture von Angst.“. Treffender kann es man gar nicht ausdrücken. Denn Angst ist der Antreiber des Perfektionismus. Der Perfektionismus raubt die Fähigkeit zur Flexibilität und Anpassung. Er schafft eine Welt, in der Menschen sich schnell bewegen, ohne etwas ändern zu müssen. Scheitern ist inakzeptabel. Anstatt Scheitern als einen Wendepunkt zu sehen. In der heutigen Zeit brauchen wir mehr denn je Flexibilität und die Fähigkeit, neu zu denken, Neues zu wagen.

Doch der Perfektionismus bremst diese Entwicklung. Denn die Angst vor Kritik (ob nun negative oder konstruktive) wird gleichgesetzt mit der Bedeutung:

Ich bin nicht gut genug. Oder der Job, den ich gemacht habe, war nicht gut genug.

Sie werden mich nie wieder, an einem Projekt mitarbeiten lassen.

Ich werde deswegen Kunden verlieren.

Ich bin eine Enttäuschung für mich, meine Familie, meine Freunde, meine Kollegen, meine Kunden.

Ich bin nichts wert.

Diese Schamspirale beginnt, in dem Moment, wo wir denken, wir dürfen nicht scheitern. Und gleichzeitig ist es der Same fürs Scheitern. Denn wann ist etwas perfekt? Wann ist es gut genug? So bleiben wichtige notwendige Prozesse in der Warteschleife, bis sie irgendwann vielleicht gut genug sein könnten. Oder du gibst es gleich auf, meidest herausfordernde Erfahrungen. Du wirst nicht daran arbeiten, neue Möglichkeiten zu entdecken oder deine eigene Vorlieben herauszufinden. Was wiederum bedeutet, du legst deine Fähigkeit zu Kreativität und Originalität auf Eis. Und dann sind wir nicht annähernd perfekt. So schließt sich der Kreis.

Das kann einen schon wahnsinnig machen. Doch stell dir jetzt nun mal, dass sich dieses Verhalten bei dir verfestigt (wie bei vielen) und denke darüber nach, wie oft diese Einstellung an die nächste Generation weitergegeben wird, ohne dass wir wissen, was wir unseren Kindern damit antun.

Es ist jetzt nicht nur verrückt. Es ist auch tragisch.

Dieses Verhalten zeigt sich in verschiedenen Aspekten unseres Lebens:

1.) Die Angst, Fehler zu machen:

Fehler sind gleichbedeutend mit Misserfolg und Scheitern. Das gibt uns dann das Gefühl, nichts wert zu sein. Die Anerkennung und den Respekt von Kollegen nicht zu verdienen.

2.) Unerreichbare hohe Standards:

Hohe Standards sind im Prinzip nicht schlecht. Es ist so gar ganz gut, sie zu haben. Sind sie jedoch so hochgesteckt, dass es unmöglich ist, sie zu erreichen, kann es katastrophal enden. Die Standards werden wichtiger als das Leben. Diese Selbsteinschätzung, niemals das Ziel zu erreichen, wird zum Lebensstil.

3.) Selbstzweifel:

Perfektionisten glauben nicht, dass sie das erreichen können, was sie wirklich wollen. Und manchmal geben sie schon auf, bevor sie es überhaupt versucht haben. Die Gedanken, ich bin nicht gut genug, ich brauche erst noch weitere Qualifikationen etc. bremsen. Wenn man einen Schritt zurück macht und seinen Selbstzweifel- Stimmen einfach mal zuhört und sich vorstellt, man würde diese Worte, diese Sätze zu seinem Partner, zu seinen Angestellten, Kollegen oder Freunden sagen, wäre man schockiert. Niemals würde man jemanden erlauben, so mit dem anderen zu reden. Und doch erlauben wir es uns täglich selbst. Wir sind gemein, hart, unnachgiebig zu uns.

4.) Burn-Out

Die Zweifel, die Angst und unerreichbaren hohen Standards sind ein sicherer Weg ins Burn-Out. Nie ist man zufrieden, nie ist man stolz auf sich und seine Leistungen, nie glaubt man der Anerkennung der anderen – das brennt aus. Zuneigung und Wertschätzung wird mit Leistung verknüpft. Ist die Leistung nicht perfekt, verdient man nicht die Anerkennung und Zuneigung anderen. Man ist es nicht wert. Die Batterie läuft leer. Wertschätzung lädt die Batterie wieder auf. Das fängt bei der eigenen Wertschätzung an. Die wichtigsten Worte, die ich sage und die ich höre, sind die Worte, die ich zu mir selbst sage (damit wären wir auch wieder bei Punkt 3). Bevor ich die Komplimente, die Anerkennung anderer annehmen kann, muss ich die Tür dafür in mir selbst öffnen.

5.) Perfektionismus ist immer ein wenig drüber.

Es ist oft das Fünkchen zu viel. Wenn der Chef eine Präsentation verlangt, dann ist sie zu umfangreich, bis in jedes kleinste Detail durchdacht – selbst wenn die Präsentation nur einen Überblick geben soll. Das Angebot für den Kunden wird überfrachtet und geschliffen bis es halt perfekt ist. Das kostet Zeit und das kostet Geld.

Was ist, wenn es schiefgeht?

Wenn man mal scheitert? Wenn man nicht die 110 Prozent erreicht?

Mach mit mir ein kleines Experiment. Stell dir vor dein Partner, dein Kind oder dein bester Freund scheitern. Sie möchten etwas erreichen und es geht schief. Dein Partner wollte ein romantisches Abendessen für dich machen und hat das Essen anbrennen lassen. Dein Kind hat gelernt und doch eine fünf in der MatheArbeit bekommen. Dein bester Freund hat eine Präsentation verhauen. Was sagst du? „Kann doch jedem mal passieren.“ „ Ist nicht so schlimm.“ „Versuch es einfach noch einmal“, „Beim nächsten Mal klappt es.“ „Lernen und weitermachen.“.

Und was ist, wenn dir das passiert?

Sagst du dir ähnliche Worte oder sagst du dir was ganz anderes?

Erwischt? Wir geben uns selbst nicht dieses Verständnis und dieses Mitgefühl. Wir reden ganz anders mit uns. Du denkst, das hat nur Einfluss auf dich? Pustekuchen! Es beeinflusst auch die Menschen in deinem Umfeld. Denn die bekommen ganz genau mit, wie du zu dir stehst. Und wie glaubwürdig wirkt dann dein Verständnis und dein Mitgefühl? Die Menschen in deinem Umfeld nehmen deine Worte nicht für wahr, weil dein Verhalten damit nicht übereinstimmt und sie hören auf, zu zuhören. Sie ergeben sich dem Perfektionismusdrang – genau wie du!

Bekommst du jetzt einen Hauch von Ahnung, wie sehr deine Einstellung zu dir und dem Perfektionismus die Menschen in deinem Leben beeinflusst? Und welche Veränderungen möglich sind, wenn du das für dich änderst? Für dich und für andere? Du könntest eine kleine Revolution starten. Es beginnt alles mit dir!

Also was tun, wenn es schiefgeht?

Als erstes tief durchatmen. Das was passiert ist, kann man nicht mehr ändern. Es gibt keinen Grund, sich deswegen unzureichend oder unzulänglich zu fühlen. Es geht dann darum, wie kann man es anders machen, was kann man aus dieser Erfahrung mitnehmen. Angst und Schuld sind oft ein Nebenprodukt, wenn man in der Vergangenheit und dem Scheitern steckenbleibt. Die Frage, ob man mit dem was in der Zukunft passieren könnte umgehen kann, schafft genug Angst, um einen zu lähmen und Dinge aufzuschieben oder sich so schlecht zu fühlen, dass man es nie wieder wagt.

Mein bester Tipp: Rede mit dir selbst, wie du mit deinem besten Freund reden würdest. Fühle mit, fühle den Schmerz und die Enttäuschung. Selbstmitgefühl ist kein Selbstmitleid, sondern ein kraftvolles Werkzeug, sich aus der Schamspirale zu bringen.

Wie so oft im Leben gibt es nicht nur schwarz und weiß, sondern viele Abstufungen von grau. Perfektionismus ist nicht nur schädlich, er ist auch nicht nur ein Hindernis und eine Bremse. Er hat durchaus gute Qualitäten. Alles eine Frage der Balance. Deswegen mache ich jetzt einen kleinen Exkurs zu den guten Seiten.

1.) Perfektionismus fördert Verbesserung

Es ist die kleine nagende Stimme, die fragt, wie kann es noch besser werden? Und sie sucht nach neuen Wegen und Möglichkeiten der Optimierung.

2.) Perfektionismus setzt Standards

Hohe Standards sind gut. Qualität ist wichtig. Hohe Standards stehen für Werte wie Integrität und Kompetenz.

3.) Perfektionismus gibt immer alles.

Der Perfektionismus verlangt alles von sich und auch von anderen. Viel von sich von anderen und von sich zu fordern, erweitert die Grenzen und öffnet neue Möglichkeiten.

Die Kunst ist es, die Balance zu finden. Die Kraft des Perfektionismus zu nutzen und gleichzeitig, diesen Funken Mut zu haben, es perfekt unperfekt sein zu lassen. Für die eigene Gesundheit, für das Seelenwohl und zum beruflichenWohle. Nachbessern kann man immer. Denn wenn etwas nicht so funktioniert wie geplant, hört die Welt nicht auf sich zu drehen. Eher im Gegenteil. Darin steckt viel Wachstumspotential. Denn wenn wir den verbissenen Ernst des Perfektionismus herausnehmen, sehen wir, was wir besser machen können, was wir aus den Situationen gelernt haben und sind leichter in der Lage, angemessen und flexibel zu reagieren.

Und es ist ein fataler Irrglaube davon auszugehen, nichts wert zu sein, wenn man nichts Überdurchschnittliches zustande bringt und Leistung mit der Zuneigung und Wertschätzung anderer Menschen koppelt.

Denn oft ist das Gegenteil der Fall: „Perfektion an einem Mann kann man bewundern. Lieben kann man sie nicht.“ sagte einst Jeanne Moreau. Erlaube es dir, perfekt unperfekt zu sein! Dann wird alles ein wenig leichter!

Share it